Liebe Eltern,
ich lade euch zu einen Alltags-Experiment ein: Probiert einmal das bewusste Loslassen. Das meine ich im ganz physischen Sinne: Wie fühlt es sich an, wenn wir die Teller und das Besteck beim Tischabräumen loslassen? Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn wir die gewaschenen Klamotten beim Einräumen loslassen? Die Einkaufstaschen abstellen? Den Stift aus der Hand legen? Und so weiter. Spürt dem einmal nach.
Loslassen. Kinder ins Leben begleiten bedeutet Loslassen. Eigentlich ist es ein Paradox: uns sind unsere Kinder anvertraut, oft empfinden wir sie als Geschenk - und zugleich müssen wir sie loslassen. Es ist eine Balance, eine ständige Gleichzeitigkeit von großer Präsenz und Loslassen. Für unser Elternherz ist es immer wieder schwer zu begreifen. In einem Moment brauchen uns unsere Kinder gefühlt zu 100 Prozent und im nächsten scheinen wir keine Rolle für sie zu spielen.
Loslassen. Kinder ins Leben begleiten bedeutet Vertrauen. Wir als Eltern können uns selbst optimieren ohne Ende. Wir können ungeklärte Dinge aus unserer eigenen Kindheit hervorkramen und bearbeiten. Wir können lernen, wie die Gehirne unserer Kinder reifen und für welche Lernprozesse es welche Begleitung braucht. Wir können lernen, gewaltfrei mit unseren Kindern zu sprechen. Wir können uns unserer eigenen Emotionen und Trigger bewusst werden und sie produktiv umwandeln. Wir können uns in unsere Kinder und ihre Bedürfnisse hineindenken und sie bestmöglich auffangen. Und dennoch können wir nicht steuern, wie unsere Kinder einmal werden und was sie tun. Dafür brauchen wir Vertrauen. Wir können den Rahmen vorgeben, Anstöße anbieten und eine bestmögliche Umgebung schaffen. Aber dann heißt es: Loslassen. Wir können das Verhalten und Erleben unserer Kinder nicht kontrollieren oder steuern. Ich kann an mir arbeiten, um die bestmögliche Mutter für meine Kinder zu sein, aber ich kann nicht X tun und das Kind wird Y erleben oder tun. Ich muss Kontrolle abgeben, loslassen, und vertrauen, dass das Kind seinen Weg findet.
Loslassen. Kinder ins Leben begleiten bedeutet Zusehen. Je größer unsere Kinder werden, umso spannender ist es zu sehen, wie sie sich entwickeln. Natürlich wollen wir Eltern unseren Kindern unsere Werte und damit verbunden unsere Lebensweise vermitteln und schmackhaft machen. Und ganz ehrlich wünschen wir uns, dass sie im Wesentlichen so werden wir wir – nur noch ein bisschen besser. Loslassen heißt auch hier die Devise. Unsere Kinder müssen und dürfen ihr eigenes Leben leben. Sie entwickeln ihre eigenen Fragestellungen und müssen und dürfen darauf eigene Antworten finden. Ihr Lebensweg ist nicht unserer. Wir müssen loslassen. Unsere Aufgabe ist es, je nach Fragestellung rechtzeitig beiseite zu treten und zuzusehen, was unsere Kinder daraus machen und welchen Weg sie einschlagen.
Loslassen. Kinder ins Leben begleiten bedeutet Abgeben. Wir wünschen uns, dass unsere Kinder gesund und glücklich aufwachsen, dass ihnen nichts zustößt. Aber wir haben es nicht in der Hand. Wir sind wieder gefragt: verantwortungsvolle Entscheidungen für unsere Kinder zu treffen (über ärztliche Vorsorge, Sicherheitsvorkehrungen, Freiheiten unserer Kinder, …). Und wir sind gefragt, dann wieder loszulassen und die letzte Sicherheit an Gott abzugeben. Wir können noch so besorgt sein, wir können noch so viele Sicherheitsvorkehrungen treffen, aber wir können keine Garantien für Leib und Leben unserer Kinder produzieren. Wir können bitten und beten, dass sie gesund bleiben und ihnen nichts zustößt, aber letztlich sind sie in Gottes, nicht in unserer Hand. Wir müssen loslassen.
Loslassen. Ja, es kann recht schmeichelhaft sein, für unsere (kleinen) Kinder einen Großteil ihrer Welt auszumachen. Und ja, es kann ein Gefühl von Sicherheit geben, wenn wir die Dinge kontrollieren können, die unsere Kinder betreffen. Aber wir müssen loslassen. Unsere Kinder gehören nicht uns, sie sind uns nur anvertraut. Sie gehören Gott, dem Herrn über alles Leben. Wir dürfen unsere Kinder ein Stück begleiten, ihnen Wegweiser mitgeben, sie lieben. Und gleichzeitig müssen wir sie loslassen, immer wieder neu.
Loslassen. Das kann schmerzhaft sein. Das darf sein. Und zugleich befreiend. Nicht wir haben es in der Hand – sondern Gott. Nicht wir müssen für unsere Kinder alles sein, haben und können - sondern bei Gott ist die Fülle, auch für unsere Kinder. Gott hat unser aller Leben in seiner liebevollen Hand und sorgt für uns nach seinem Plan. Wir dürfen getrost loslassen.
Unsere Hand, die loslässt, öffnet sich gleichzeitig und kann somit auch wieder neu empfangen.
Viele Grüße von Judith